Ich bin nicht sie (1.) - Moment der Unachtsamkeit
"Lass sie hier, ich passe auf sie auf", antwortete Anna und sah das kleine Mädchen mit den langen blonden Haaren an.
Die kleine Julie saß am anderen Ende des Raumes und hielt ein Kinderbuch in den Händen. Sie schien von der Welt nichts mitzubekommen.
Anna spürte, wie sich ihre Lippen von selbst zu einem kleinen Lächeln verzogen. Dabei schweiften ihre Gedanken zu der kleinen Prinzessin Bella, die Märchen liebte. Cinderella und Die Schöne und das Biest waren ihre Lieblingsmärchen. Als sie ihr eines Tages wieder dieses Märchen vorlas, sagte ihre Tochter: "Mama, ich werde auch in einem verzauberten Schloss leben, und du und Papa werden mit mir dort leben."
Es war eine schöne Erinnerung, aber sie wurde von Traurigkeit getrübt.
"Anna, geht es dir gut? Anna!" Sie öffnete langsam ihre Augen, die sie bei der Erinnerung an ihre kleine Tochter geschlossen hatte. Sie seufzte leise und sah ihre langjährige Freundin Melissa an, die sie fast wie ihre eigene Schwester betrachtete. Ihr konnte sie immer alles sagen, und sie musste sich keine Sorgen machen, dafür verurteilt zu werden. Melissa war für sie da, egal was passierte.
"Ich kann den Arzt absetzen und hier bei dir bleiben", sagte Melissa leise und drückte die Hand ihrer Freundin.
Es erstaunte Anna immer wieder, auch nach all den Jahren, dass sie sie besser kannte als sich selbst. Sie drehte sich zu ihr um und versuchte ein beruhigendes Lächeln, das, Melissas traurigem Gesicht nach zu urteilen, nicht ganz funktionierte.
"Nein, geh nur, ich schaffe das schon", antwortete sie und löste hastig ihren Griff. "Geh, komm nicht zu spät", fügte sie hinzu und drehte sich um. Sie umklammerte ihren schwarzen Stock fest. Dabei spürte sie Melissas stechenden Blick auf ihrem Rücken, aber sie ignorierte ihn. In die andere Hand nahm sie drei eher schmale Bücher und drückte sie an ihre Brust. Dann ging sie mit einem leisen Ein- und Ausatmen um den kleinen weißen Tresen herum, mit schwerem, schlaffem Schritt.
"Anna!" Melissa versuchte es noch einmal, aber sie schüttelte nur den Kopf, weil es nichts mehr zu sagen gab. Sie wusste, dass Mel ihr nur über den Schmerz ihres Verlustes hinweghelfen wollte, sie so gut wie möglich unterstützen wollte, und dafür war sie dankbar, aber gleichzeitig musste sie selbst damit fertig werden und vor allem wieder lernen, mit dem Schmerz zu leben, der immer in ihrem Herzen gewesen war.