
Ich bin nicht sie - Fast wie eine nette Familie (16.)
Entsetzt und mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie sich die beiden mit den Augen maßen.
„Was soll das denn heißen, junger Mann?“ schnauzte Madame und schlug dabei mit ihrem Stock auf den Boden, bis Anna spürte, wie sie zusammenzuckte. Im nächsten Moment war es mucksmäuschenstill im Laden.
Anna war kurz davor, etwas zu sagen. Sie verlangte eine Erklärung, denn das ging ihr langsam aber sicher auf die Nerven.
„Was ist los?“, sprach Anna und zwang sich, sich zu bewegen, während sie beobachtete, wie Madame sich zum Tisch drehte und Michael sich von seinem Stuhl erhob und sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.
„Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt, MICHAEL BRAUN.“ Beim Klang seiner Stimme hielt Anna inne. Sie wusste selbst nicht, warum, ob es der Tonfall war oder die Betonung, mit der er es sagte, und leider war sie nicht die Einzige, die etwas erschrocken war.
„Papa!“ rief Julie. Dabei hob sie den Kopf und sah ihren Vater an, der mit beruhigender Stimme zu ihr sprach, ohne sie anzusehen.
„Ist schon gut, mach dir keine Sorgen. Geh zu deiner Tante!“ Nach diesem Satz verstand Anna, dass es besser wäre, wenn sie sich jetzt raushalten und später fragen würde.
Also nahm sie die Hand von Julie, die inzwischen auf sie zugelaufen war.
„Komm zu mir, Liebes, hab keine Angst!“, versuchte sie sich um einen ruhigen Tonfall zu bemühen, was ihr jedoch nicht so recht gelang, denn sie selbst begann, obwohl sie es nicht zugeben wollte, sich Sorgen zu machen.
Die beiden lieferten sich einen Kampf der Augen, der keinen Sieger hatte. Anna ließ ihren Blick zwischen den beiden hin- und herschweifen und versuchte, wenigstens etwas von ihren Gesichtern zu verstehen, was ihr zunächst nicht leicht fiel, bis die Worte, die kurz darauf folgten, ihr einen Einblick gewährten.
„Oh, es ist schön, Sie wiederzusehen, Michael Braun.“ Die Lippen der alten Dame verzogen sich zu einem falschen Lächeln, während sie ihre rechte Hand ausstreckte, als erwarte sie, dass Michael sie tatsächlich freundlich begrüßte.
„Wir haben uns lange nicht gesehen, meine Liebe. Wie geht es dir denn? Wie ich sehe, hast du dich ein wenig verändert. Was ist mit deinem Vater, wie geht es ihm?“ Sie stellte eine Frage nach der anderen, und ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter.
Anna konnte nicht glauben, was sie in diesem Moment sah und hörte. Sie spürte, wie sich ihre schwarzen Augen zu einem Ausruf weiteten, als sie die Bewegung des Mannes beobachtete.
Auf den ersten Blick sah es so aus, als ginge er zu Madame hinüber, die einen seltsamen Glanz in den Augen und einen entspannten, fast könnte man sagen freundlichen, Gesichtsausdruck hatte.
Uff! Was für einen schnellen Stimmungswechsel sie hat! Anna verzeiht sich den Gedanken nicht, aber sie kommt nicht zum nächsten, denn die nächste Aktion des Mannes wirft sie ziemlich aus der Bahn, denn sein fester und entschlossener Schritt geht nicht dahin, wo Anna ihn vermutet, sondern kommt auf sie zu.
„Es geht ihm gut, danke, wissen Sie, er ist noch in seine Arbeit vertieft.“
Während er die letzte Frage von Madame beantwortete, stellte er sich neben Anna, fasste sie um die Taille und zog sie zu sich heran.
Die junge Frau war so außer sich, dass sie nicht protestierte. Damit hatte sie nicht im Geringsten gerechnet. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, ob sie etwas sagen sollte.
Schließlich ließ sie das kleine Mädchen los, aber nur, um es ebenfalls an sich zu ziehen und schützend zu umarmen.
Die drei standen in der Mitte des Ladens, und auf den ersten Blick sahen sie fast wie eine nette Familie aus.