
Ich bin nicht sie - Tief- und dunkelblau zugleich (19.)
„Komm, setz dich.“ Michaels Hände begannen sie zu dem weißen Hochstuhl zu führen, der neben dem Fenster stand.
„Geh es einfach langsam an.“ Sie spürte, wie sich seine rechte Hand zu ihrer Taille hinunterbewegte. Anns Herz machte in diesem Moment einen schmerzhaften Purzelbaum.
„Lehn dich an mich!“ Seine Stimme kam ihr plötzlich sinnlich vor ... Anna schüttelte gedankenverloren den Kopf, aber die Bewegung ließ ihre Sicht ein wenig verschwimmen.
„Mir geht's gut“, gurrte sie. Leider war ihre Stimme nicht so überzeugend, wie sie dachte. Er sagte nichts darauf und führte sie zu einem Stuhl.
„Setz dich langsam hin!“ Gerade als sie ihm gehorchte und tat, was er fast befohlen hatte, spürte sie ein Gefühl der Erleichterung, und die Welt hörte langsam auf, sich mit ihr zu drehen. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und lehnte ihren Kopf an die hohe Lehne.
„Sag mir, wie lange gibst du schon Vollgas?“ Er sprach in einem Ton, in dem deutliche Besorgnis zu hören war. Anna hatte nicht vor, ihm zu antworten. Doch Michael bewies einmal mehr, dass er sie auch ohne Worte verstand und antwortete selbst.
„Du wirst dich noch ruinieren!“ Da war eine plötzliche Zärtlichkeit in seiner Stimme, die Anna ein wenig überraschte. Es schien fast ... Aber nein, das ist dumm! Er kann mich nicht die ganze Zeit lieb... Nein, das ist dumm!
Annas Gedanken wurden in dem Moment unterbrochen, als sie eine warme Berührung auf ihrer Hand spürte, die auf der Armlehne ruhte. Ihr Gehör nahm das Knistern des Fingerknöchels auf und der Geruch von Pfefferminz war plötzlich wieder ein Stückchen näher.
„Es hilft mir, nicht schwarz zu denken, und außerdem zahlen sich Schulden nicht von selbst“, sprach sie und ließ eine gewisse Kälte in ihrer Stimme durchscheinen.
„Immer noch so hart zu mir selbst, und vor allem lasse ich niemanden an mich heran.“ Michaels eher leise Worte ließen Anna die Augen öffnen. Der Mann hockte sich an sie. In seinem Blick lag so viel Schmerz, dass es ihr fast den Atem raubte.
„Es ist das Beste“, stieß sie hervor.
„Und wenn ich jemanden in meine Nähe lasse, wird es katastrophal sein. Entweder ich verletze ihn oder er stirbt!“ Das letzte Wort war kaum noch zu hören. Es herrschte eine Grabesstille, in der sie sich gegenseitig in die Augen starrten, ohne etwas zu sagen, denn die Vergangenheit war für beide ein sehr schmerzhaftes Thema, und keiner von ihnen öffnete ihr bereitwillig die Tür.
„Ich mache dir einen Kaffee und bringe dir wenigstens einen Donut. Du brauchst etwas Zucker“, sagte er, als das Schweigen zwischen ihnen zu lange gedauert hatte.
Anna wusste, dass er ihr noch etwas zu sagen hatte, aber die Worte schienen seinen Mund nicht verlassen zu wollen.
Er starrte sie noch einen Moment lang an. Sie hatte bei seinem Blick das Gefühl, dass er sie bis auf den Grund ihrer Seele sehen wollte. Sie neigte dazu, in diesem Moment durchzudrehen, so wie damals, als sie in ihre Teenagerjahre kam. Damals waren ihr alle seine Blicke so vorgekommen, tief und dunkelblau zugleich.
Anna wusste nicht genau, wann sie angefangen hatte, in ihm etwas anderes als ihren heimlichen und einzigen Freund zu sehen, aber sie wusste, dass seine Blicke ganz klar und eindeutig dazu beigetragen hatten, genauso wie sie es jetzt taten.
„Sieh mich nicht so an.“ Stattdessen wandte sie den Kopf ab, atmete leise ein und blickte auf das kleine Bündel hinunter, das noch immer fest schlief, zugedeckt bis zum Hals, nur der Kopf war zu sehen.
Anna spürte, wie sich ihre Lippen bei diesem Anblick zu einem sanften Lächeln verzogen.
Du hast eine wunderschöne Tochter und eine Arbeitsbeziehung mit meinem besten Freund, der dich jetzt sehr brauchen wird. Es ist also besser, wenn ...“ Der Rest des Satzes musste unvollendet bleiben, denn Annas Worte wurden durch eine warme, sanfte Hand, die ihre Wange berührte, unterbrochen.
„Du wirst wieder vor mir weglaufen“, die Handfläche ruhte auf ihrer Wange, und ein sanfter Druck ließ sie wieder zu Michel schauen.
Der Mann war jetzt gefährlich nahe an ihrem Gesicht. Sein warmer Atem strich leicht gegen ihre Wange. Mit der anderen Hand umklammerte sie fest den Stock, der zwischen ihren Knien stand.
Das war das Einzige, was den Mann davon abhielt, noch näher an Anna heranzukommen.